Der Fall des achtjährigen Fabian gehört zu jenen seltenen, erschütternden Dramen, die sich nicht nur in die nüchternen Akten der Kriminalgeschichte einschreiben, sondern tief in das emotionale Gedächtnis eines ganzen Landes. Am 10. Oktober verschwindet ein Kind. Ein ganz normaler Morgen, der plötzlich zum Albtraum wird.
Was als verzweifelte Vermisstensuche beginnt, mündet nach der Entdeckung seiner Leiche in ein Tötungsdelikt. Doch je tiefer die Ermittler graben, desto komplexer, dunkler und unberechenbarer wird der Fall.
Und mitten in diesem Chaos steht Dorina Lange, eine Mutter, deren Trauer sich in einen stillen Schrei nach Gerechtigkeit verwandelt, einen Schrei, der die Republik wie ein Donnerschlag trifft.

Wochen nach dem Verschwinden, nach unzähligen Suchaktionen, ersten Verdachtsmomenten und widersprüchlichen Spuren, steht ein Satz im Mittelpunkt, der alles verändert: “Ich fühle mich von der Polizei alleinelassen.” Diese Worte, gesprochen mit brüchiger Stimme in einem RTL-Interview, offenbaren das zerrüttete Verhältnis zwischen einer trauernden Mutter und den Behörden.
Während die Ermittler gebetsmühlenartig betonen, sie würden unermüdlich arbeiten, wächst bei Dorina das Gefühl, auf sich allein gestellt zu sein, gefangen zwischen Hoffnung und Verzweiflung.

Die Chronologie des Bruchs: Von der Hoffnung zur Anklage
Der 10. Oktober bildet den Ausgangspunkt einer Spirale aus unklaren Aussagen und wachsender Ohnmacht. Zunächst reagierten Polizeisuchgruppen und Nachbarn entschlossen, mit der typischen Annahme, ein vermisstes Kind könne schnell gefunden werden. Doch die Entdeckung der Leiche markierte eine Zäsur, die aus der Vermisstensuche einen Mordfall machte.
Fortan gewann jede Entscheidung der Polizei, sei es der Umgang mit Spuren oder der Fokus auf mögliche Tatverdächtige, an existentieller Bedeutung.
Von Anfang an gerät Gina H., die Ex-Partnerin des Vaters, in den Fokus der Ermittlungen. Ihr persönliches Umfeld, ihre frühere Nähe zur Familie und ihr Verhalten werden intensiv geprüft. Früh wird Untersuchungshaft verhängt, ein Signal an die Öffentlichkeit: Die Ermittler glauben an einen dringenden Tatverdacht.
Doch genau hier beginnen die Unklarheiten und die Lücken.
Die Beziehung zwischen Dorina Lange und den Ermittlern, die zunächst sachlich und beinahe kooperativ begann, zerbricht unter der Last wiederholter, ausbleibender Fortschritte und mangelnder Transparenz.
Dorina spürt, dass sie nicht nur als trauernde Mutter, sondern auch als potenzielle Informationsquelle gesehen wird, die man immer wieder anzapft, selbst wenn sie am Ende ihrer Kräfte ist. Die Belastung führt zur emotionalen Distanz, die im Schmerz-Satz der Mutter ihren Ausdruck findet.

Parallel dazu verschärft Dorinas Anwältin, Christina Haveta, den Ton. Mit einer Schärfe, die in juristischen Kreisen selten ist, wirft sie den Ermittlern Hilflosigkeit und eine „prekäre Beweislage“ vor. Dieser Begriff ist im deutschen Strafrecht alles andere als harmlos.
Er impliziert, dass der Beweisstand nicht nur schwach, sondern instabil ist – so instabil, dass er unter der geringsten Belastung zusammenbrechen kann. Und genau dieser Zustand wurde im Fall Gina H. sichtbar.
Ohne neue Spuren, ohne klare Aussagen und ohne eindeutige forensische Ergebnisse wurde die Fortführung der Untersuchungshaft zunehmend gefährlich für die Ermittler.
Das Phantom in den Akten: Neue Spuren stellen alles in Frage
Die Beweisführung der Polizei weist zwei alarmierende Schwachstellen auf: Erstens ergab die Obduktion zwar Hinweise auf ein Gewaltverbrechen, aber keine eindeutige Todesursache. Ohne diese ist es nahezu unmöglich, einer Person eine konkrete Tötungshandlung nachzuweisen.
Zweitens: Am Fundort fand man verbranntes Gras, ein Rätsel, dessen Zusammenhang zur Tat ungeklärt blieb und die gesamte Beweiskette schwächte.
Inmitten dieser Unsicherheiten traf die Polizei am 20. November eine Entscheidung, die den Fall neu beleben sollte: ein Zeugenaufruf. Ungewöhnlich präzise wurden Autofahrer mit Dashcams und insbesondere die Insassen des Regionalbusses Nummer 203 gebeten, sich zu melden.
Dieser Aufruf wirkte wie ein chirurgischer Eingriff, zielgerichtet und mit der impliziten Botschaft: Die klaren Beweise fehlen. Intern gab es offenbar Hinweise, möglicherweise aus Funkzellenauswertungen, dass der Pickup von Gina H. sich zu genau diesem Zeitpunkt an einem bestimmten Punkt befunden haben könnte.
Doch die Reaktion der Öffentlichkeit führte zu einem Schock-Moment für die Ermittler.
Anstatt nur Bestätigungen für die bisherige Theorie zu liefern, meldeten sich Zeugen, die ein Fahrzeug beschrieben, das zwar dem Pickup der Verdächtigen ähnelte, aber dennoch Unterschiede aufwies – in Farbe, Zustand oder Details. Diese Abweichungen waren zu klein, um ignoriert, und zu konsistent, um Zufall zu sein.
Die Möglichkeit eines zweiten Fahrzeugs war geboren.
Noch viel verstörender war jedoch der Befund aus der erneuten Analyse der Funkzellendaten: Ein zweites Mobiltelefon war zur fraglichen Zeit im selben Bereich aktiv. Dieses Telefon, das Phantom-Handy, konnte keiner bekannten Person zugeordnet werden – weder Dorina Lange noch dem Vater, noch Gina H..
Für die Ermittler war dies ein Schock: Entweder handelte es sich um eine zufällige Überschneidung, oder es bedeutete, dass eine weitere Person am Tatort oder in der Nähe gewesen sein musste, deren Existenz bisher völlig ignoriert wurde. Plötzlich war nicht mehr klar, ob Gina H.
allein gehandelt hatte, oder ob der Fall eine völlig andere, unberechenbare Wendung nehmen würde.
Der dunkle Sog: Die unheimlichen Parallelen
Die Verunsicherung wurde durch ein Ereignis auf die Spitze getrieben, das Dorina Lange persönlich traf: Sie erhielt eine anonyme Nachricht. Nur ein einziger, kalter Satz: „Ihr sucht in die falsche Richtung.“ Kein Absender, keine Erklärung, keine Spur. Die Nachricht wurde von einem Gerät verschickt, das unmittelbar danach deaktiviert wurde.
Für die Ermittler stellte sich sofort die Frage: War es eine bösartige Provokation, ein Versuch der Manipulation oder ein Hinweis einer tatsächlichen Wissensperson? Das Gefühl, dass jemand aktiv versuchte, das Ermittlungsbild zu beeinflussen, drängte sich auf.
Als wäre dies nicht genug, stieß Anwältin Haveta in den internen Ermittlungsakten auf ein verstörendes Detail, das bisher nicht öffentlich wurde. Vor Jahren gab es in derselben Region einen ungeklärten Vorfall, bei dem ebenfalls an einem abgelegenen Waldabschnitt offenes Feuer gefunden wurde.
Die damalige Untersuchung wurde eingestellt, doch angesichts des verbrannten Grases am Fundort von Fabian wird der alte Fall wieder relevant.
War es Zufall? Oder zeigt sich hier ein Muster eines Täters, das bisher niemand erkannt hat?
Haveta zog sofort die Parallele und konfrontierte die Ermittler mit der entscheidenden Frage, ob es wirklich gerechtfertigt sei, weiterhin ausschließlich auf eine einzige Verdächtige zu setzen. Die Ermittler mussten einräumen, dass die Spurenlage brüchiger ist, als bisher dargestellt.
Die Familie erkannte: Der Fall hat möglicherweise eine Dimension, die sie nie erwartet hätten. Die Wahrheit liegt nicht nur verborgen, sie wurde möglicherweise auch bewusst verschleiert – von wem auch immer.
Die Entschlossenheit der Mutter: Ein Kampf, der nicht erlischt
Inmitten all dieser neuen Fragen beginnt Dorina Lange, sich neu zu orientieren. Die wiederholten Rückschläge, die Ungewissheit, all das hat sie zermürbt, aber nicht gebrochen. Stattdessen wächst in ihr eine stille Entschlossenheit. Sie beginnt zu verstehen, dass ihr Schmerz eine Energiequelle sein kann. Trauer und Handlungskraft müssen sich nicht ausschließen.
Ihre Anwältin Christina Haveta wechselt ebenfalls den Kurs. Sie konzentriert sich nicht mehr nur auf Kritik, sondern auf konstruktive Forderungen: neue Analysen, die erneute Prüfung des verbrannten Grases, ein unabhängiges Review der Obduktion.
Am Ende all dieser Entwicklungen steht der Fall Fabian an einem Punkt, an dem nichts mehr eindeutig ist. Das nicht zuordenbare Fahrzeug, das zweite Mobiltelefon, die anonyme Nachricht, die Parallelen zu einem alten, ungelösten Fall – all dies sind Fragmente einer Wahrheit, die sich noch nicht zeigen will.
Die Ermittlungen hängen in einem Zustand der Schwebe, der alle Beteiligten zwingt, mit der Unsicherheit weiterzuleben.
Doch Dorina Lange weiß nur eines: Ihr Weg ist nicht zu Ende. Sie steht nicht mehr als gebrochene Mutter da, sondern als eine Frau, die gelernt hat, inmitten der Verzweiflung einen Weg nach vorne zu sehen.
Die Wahrheit ist irgendwo da draußen, und sie wird weiterkämpfen, bis sich der Schleier hebt und der Kampf um die Wahrheit nicht erlischt.